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Hanau – Gedenken statt querdenken

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Vor zwei Jahren ermordete ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen, bevor er seine Mutter und dann sich selbst tötete. Gökhan Gültekin (37), Sedat Gürbüz (30), Said Nesar Hashemi (21), Mercedes Kierpacz (35), Hamza Kurtović (22), Vili Viorel Păun (23), Fatih Saraçoğlu (34), Ferhat Unvar (22) und Kaloyan Velkov (33) sind die Todesopfer 207 bis 216 rechtsextremer Gewalt in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Es folgte eine große Welle an Solidarität und antifaschistischer Bekundungen. Jetzt marschieren Bürger*innen wieder gemeinsam mit Rechtsextremist*innen. Wie konnte das geschehen?

Die neun Menschen, denen der rechtsextremistische Täter die Leben nahm, standen in der Blüte ihres Lebens, mit Hoffnungen, Träumen und Wünschen, die ihnen aus rassistischer Niedertracht genommen wurden. Der Täter war ein Einzelgänger, ein von rechtsextremistischem Gedankengut erfüllter Rassist, der diese jungen Menschen ermordete, weil sie in seinen Augen ausländisch aussahen.

Vor zwei Jahren durchströmten Solidarität und antifaschistisches Handeln die Gesellschaft. Rufe zum Verbot von rechtsextremen Vereinigungen wie AfD oder den Pro-Vereinen wurden lauter, da sie Xenophobie schüren. Ins selbe Horn stoßen antifaktische Medien, wie die Medien der Springerpresse (BILD, Welt) oder Organe, die auf das Verbreiten rechtsextremer Narrative spezialisiert sind, wie Junge Freiheit, Compact, eigentümlich frei, Die Freie Welt, Die Neue Ordnung und viele andere rechtspopulistische Postillen, die mit erfundenen oder zugespitzten Szenarien Hetze gegen ausländisch gelesene Mitbürger*innen betreiben. Sogenannte soziale Netzwerke wirken bei der Verbreitung als Katalysator, die Netzwerks-Betreibenden kommen ihren gesetzlichen Pflichten nicht nach.

Leider ist man in der Zwischenzeit nicht entschieden genug gegen Rechtsextremismus und Lügenhetze vorgegangen. Das Ergebnis erleben wir heute als Querdenken: Menschen verbreiten im großen Stil Fehlinformationen zu den Themen Gesundheit und Politik, greifen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung an und marschieren gemeinsam und öffentlich mit Rechtsextremist*innen. Der antifaktische, rechte Mob bedroht Politiker*innen mit dem Tod, taucht mit Fackeln vor deren Privatwohnungen auf und kann sich der positiven Berichterstattung in den o.g. rechtspopulistischen Medien sicher sein. Während sie Diktatur, Plandemie und Lügenpresse skandieren, Impfungen und andere solidarische Maßnahmen zum Schutz der Schwächsten ablehnen, werden Ordnungshütende und Pressevertretende angegriffen, und jede Anstrengung unternommen, um Wissenschaft, demokratische Politik und die ordentliche Presse zu unterminieren. Diese Gruppe Menschen hat sich in ihrer antifaktischen Blase nicht nur häuslich eingerichtet, sie radikalisiert sich zunehmend. Krude Meinungen ersetzen in diesen Netzwerken Fakten, der Realitätsverlust wird intensiviert. Antifaschismus wird von rechtsgerichteten Menschen als Gefahr und Extremismus wahrgenommen, weil ihr rechtsextremes Weltbild angegriffen wird.

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“

Bertolt Brecht

Dabei ist Antifaschismus Grundpfeiler unserer bunten Demokratie, die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Bundesstaat. Unsere Verfassung wurde aufgrund der unmenschlichen Gräueltaten der Nationalsozialist*innen verfasst, um dieses dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte für die Zukunft zu verhindern. Es wird Meinungsfreiheit gewährleistet, Meinungsfreiheit ist ein antifaschistischer Akt. Das Kritisieren von Maßnahmen unterliegt dieser Meinungsfreiheit, sofern empirische Erkenntnisse anerkannt und nicht durch Falschaussagen ersetzt werden. Meinungsäußernde müssen auch mit Konsequenzen rechnen, wenn ihre Meinung Straftatbestände erfüllt oder offensichtliche Falschaussagen sind. Es herrscht das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit die Rechte anderer nicht verletzt werden und diese Freiheit nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Es besteht für alle Bürger*innen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, also auch für diejenigen Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen auf den Schutz durch die Gemeinschaft angewiesen sind.

Viele der Probleme in unserer Stadt, in unserem Land und in unserer Gesellschaft lassen sich auf ausufernden Egoismus zurückführen. Das jeweilige Ich wird nicht mehr als Teil einer Gesellschaft verstanden, sondern als Nabel der Welt. Rechte werden selektiert und nicht mehr allen Menschen zugestanden, es wird verbal entmenschlicht, entwürdigt, es wird in Ich, Wir und Die unterteilt, faschistoide Spaltungsmethoden werden übernommen und etabliert. Gesellschaftliche Grenzen werden verschoben und dann ausgehebelt.

In Remscheid leben etwa 112.000 Menschen aus 120 Nationen. Etwa 6 Prozent der Bürger*innen wählten bei der Kommunalwahl 2020, also knapp ein halbes Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle, Parteien oder Vereine mit rechtsextremen Inhalten. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, schloss Bertolt Brecht, und so lange wir als Gesellschaft menschenfeindliche und antifaktische Inhalte dulden, statt uns offen und laut gegen sie zu stellen, sind rechtsterroristische Anschläge wie in Hanau weiter möglich. Wir als Gesellschaft können das verhindern. Lasst es uns tun.

Sascha von Gerishem
Sascha von Gerishemhttps://www.luettringhauser.de
Geboren 1977 in Duisburg, aufgewachsen in Wuppertal, Duisburg und am Niederrhein, Alumnus des Collegium Augustinianum Gaesdonck, Studiengang Absatzwirtschaft an der Fontys Hogescholen Venlo, selbstständig seit 1998, u.a. als freier Dozent an diversen Berufsakademien.
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