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Erinnerungen an den Urgroßvater: Von Aruba in die JVA Lüttringhausen

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Lebendige Erinnerungen an den Urgroßvater: Peter-Hans Auwerda kam aus Aruba und besuchte die JVA Lüttringhausen.

Im Gespräch: Katja Grafenweg, Leiterin der JVA mit Miriam und Peter Auwerda. Foto: Peter Klohs
Im Gespräch: Katja Grafenweg, Leiterin der JVA mit Miriam und Peter Auwerda. Foto: Peter Klohs

Diese Geschichte beginnt im Dezember 2020.

Andrea Blesius, die als Schriftführerin der Remscheider Gedenk- und Bildungsstätte Pferdestall tätig ist und sich seit dem 18. Lebensjahr mit den Folgen des Nazi-Regimes im Bergischen Land beschäftigt, studierte das Schicksal von Opfern, die während des zweiten Weltkrieges in der Justizvollzugsanstalt in Lüttringhausen, die damals noch Zuchthaus hieß, inhaftiert waren. Zu diesem Thema hat Blesius einen persönlichen Bezug, denn ihr Großvater war in Kriegszeiten im Zuchthaus als Wärter tätig. Intensiv beschäftigte sich die 49-jährige Blesius mit niederländischen Insassen, denn in den niederländischen Archiven bekommt man online schnelle Auskünfte. Im „Oorlogsgravenstichting“, dem holländische Pendant zur hiesigen Kriegsgräberfürsorge, bemerkte Andrea Blesius einen Beitrag über den niederländischen Widerstandskämpfer Karel Reusen, der beinahe drei Jahre in Lüttringhausen eingekerkert war. Kontakdaten zu dessen Urenkel Peter-Hans Auwerda waren angefügt. „Wunderbar“, dachte die Bergische Lokalhistorikerin, „in drei Stunden bin ich in den Niederlanden“ und kontaktierte Auwerda per E-Mail. Die Antwort kam auch prompt, allerdings aus Aruba, der kleinsten der in der Karibik befindlichen ABC-Inseln, wo Peter Auwerda mit seiner Familie lebt. Peter Auwerda war begeistert über Andrea Blesius Arbeit, gab bekannt, dass er die Bibel seines Urgroßvaters in Besitz habe und erwäge, bei seinem nächsten Verwandtschaftsbesuch in den Niederlanden auch in Lüttringhausen vorbeizuschauen, um sich im ehemaligen Zuchthaus ein persönliches Bild davon zu machen, wo und unter welchen Umständen sein Großvater inhaftiert war.

Der Besuch der Familie Auwerda fand am 16. Juli statt. Peter hatte seine Frau Miriam sowie die beiden Söhne Alexander und Christiaan mitgebracht. Der Vorstand des Pferdestall-Vereins hatte sich dafür eingesetzt, dass die Familie einen Rundgang durch die JVA unternehmen konnte. Die Leiterin der JVA, Katja Grafenweg, ließ es sich nicht nehmen, den Rundgang persönlich zu begleiten und die Familie Auwerda zu informieren.

Peter Auwerda war sein Innenleben anzumerken. Staunend stand er vor dem Eingang zur JVA und sagte: „Hier war mein Urgroßvater. Ich kann nicht glauben, dass ich hier bin.“

In den Gängen, in denen die aktuellen Häftlinge einsitzen. Eine zur Zeit nicht benutzte Zelle wird geöffnet, damit Peter einen Eindruck bekommen kann, unter welchen Bedingungen sein Urgroßvater eingekerkert war. Die Zelle ist mit 6 Quadratmetern unmenschlich klein, der Sanitärbereich ist nicht vom Wohnbereich getrennt. Die Wände sind karg, alleine der Anblick macht betroffen. Am Anfang strömt die Besuchergruppe hinein, fühlt jedoch schnell, dass dieses Verhalten nicht angemessen ist und lässt Peter allein. Der steht bewegungslos da, betet er, fühlt er? Es wird still im Gang vor der Zelle, mancher Blick wendet sich ab, man darf vermuten: Aus Respekt. Miriam kommt hinzu, hält ihren Mann, will Trost spenden in dunklen Gedanken, aber Peter bemerkt das gar nicht, ist in sich und nicht woanders, steht weiterhin bewegungslos. Etwas später kommen die beiden Söhne hinzu, auch sie umfangen den Vater, eine sich haltende Familie. Nach dem Verlassen der Zelle bedankt sich Peter bei Katja Grafenweg für die einzigartige Erfahrung, die er gerade machen durfte.

Wie die Leiterin der JVA berichtet, wird diese Zelle auch heute noch für Einzel-Inhaftierte benutzt.

In der JVA-eigenen Kirche. Peter vermisst mit seinen Schritten den Innenraum des Gotteshauses, bleibt dann nahe der Gruppe stehen, spricht ein paar Sätze in Niederländisch. Dann beginnt er mit einer schönen Baritonstimme zu singen, ganz allein, a cappella, fremde Melodie in unbekannten Worten. Es ist das „Panis Angelicus“ aus der Hymne „Sacris solemniis“. „Panis angelicus, fit panis hominum…“ Alle schweigen und hören, wollen den sakralen Moment bewahren. Den Peter dann selbst beendet, in dem er nach seinem Gesang fragt: „Noch jemand?“

Hans Heinz Schumacher, 1. Vorsitzender der Gedenk- und Bildungsstätte Pferdestall, übergibt Blumen an Peter Auwerda. Foto: Peter Klohs
Hans Heinz Schumacher, 1. Vorsitzender der Gedenk- und Bildungsstätte Pferdestall, übergibt Blumen an Peter Auwerda. Foto: Peter Klohs

Vor dem Eingang zur JVA ist eine Gedenktafel für die während der Nazizeit zu Unrecht Inhaftierten und in der Wenzelnbergschlucht getöteten Menschen. Dort fand sich die Besuchergruppe nach dem Rundgang zusammen, legte Blumen nieder und entzündete in Gedenken an Karel Reusen Kerzen. Peter Auwerda hatte auch die Bibel seines Urgroßvaters mitgebracht, die so den Weg Europa / Aruba zweimal zurückgelegt hat.

Hans Heinz Schumacher, Vorsitzender der Gedenk- und Bildungsstätte Pferdestall, würdigte Karel Reusen als Helden. „Es ist eine große Freude, Sie und Ihre Familie heute hier zu haben“, fügte er an. Peter Auwerda bedankte sich vor Allem bei den Mitarbeitern des Pferdestall-Vereins im Allgemeinen und bei Andrea Blesius im Besonderen. „Stellen Sie sich mal vor“, imaginierte er, „Ihr Großvater und mein Urgroßvater hätten sich gekannt. Dann erinnerten wir uns hier und heute an zwei Menschen: Einer über 60, der andere 30 Jahre alt.“ Seine auf Deutsch gehaltene Dankesrede schloss er auf Englisch: „Love conquers all“. Die Liebe erobert alles.

Die alte Bibel mit Blumen und Kerzen unter der Gedenktafel. Foto: Peter Klohs
Die alte Bibel mit Blumen und Kerzen unter der Gedenktafel. Foto: Peter Klohs

Bei der Verabschiedung sage ich auf englisch: „Es war mir eine Freude – und eine Ehre – dich kennengelernt zu haben.“ Und Peter lächelt leicht und groß und sagt auf deutsch: „Die Freude war ganz auf meiner Seite.“

Das Manuskript von Peters Rede, unterschrieben von allen Anwesenden. Foto: Peter Klohs
Das Manuskript von Peters Rede, unterschrieben von allen Anwesenden. Foto: Peter Klohs

Ich frage noch Andrea Blesius nach ihren Eindrücken dieses Nachmittags. Sie weiß zunächst keine Antwort, die sie zufrieden stellt, und sagt dann kurz – und noch immer bewegt: „Krass!“ – „Ihr Großvater, ich verstehe.“ Sie nickt und wendet sich ab.

Diese Geschichte schließt vorerst am Freitag, dem 16. Juli 2021 um kurz vor 19.00 Uhr.

Die komplette Besuchergruppe vor der Gedenktafel. Foto: Peter Klohs
Die komplette Besuchergruppe vor der Gedenktafel. Foto: Peter Klohs
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